Venezuela: Die Armee in den Schulen

Twitter icon
Facebook icon
Google icon
e-mail icon

Rafael Uzcátegui

Ähnlich wie in allen übrigen Ländern Lateinamerikas ist ein Soldat der wichtigste Gründungsmythos Venezuelas. Simón Bolívar, der „Vater des Vaterlandes“ ist als großer Militärstratege im Gedächtnis. Seine Gestalt, als Reiterstandbild mit heroischer Gebärde oder seine Büste, die seine Stellung in der Hierarchie des sogenannten „Befreiungsheeres“ zeigt, markiert das Zentrum aller Städte und Dörfer des Landes. In spezieller Weise ist der Militarismus wichtiger Teil der Kultur und Phantasie der Venezolaner und Venezolanerinnen. Bolívar wird der Satz zugeschrieben: „Ecuador ist ein Konvent, Kolumbien ist eine Universität und Venezuela ist eine Kaserne“. 51 Jahre lang, bis ins 21. Jahrhundert, wurde dieses ehemalige Exportland für Kaffee und Kakao, später für Öl als hauptsächliche Industrie des Landes, von Militärführern beherrscht, „von charismatischer Persönlichkeit, mit weitem Beziehungsnetz und mit einer beträchtlichen und lang dauernden Einnahmequelle.“ In diesen Jahren war der Hauptbeitrag Venezuelas zur regionalen Soziologie die Theorie des „Demokratischen Cäsarismus“, der eine Regierung postulierte, die sich auf die dauernde Wiederwahl eines charismatischen Führers stützte, eines „notwendigen Gendarmen“, eifrig in der Konzentration der Macht. Ein Simón Bolívar in alle Ewigkeit.
Wenn also die Schulen, Internate und Universitäten Venezuelas immer die herrschende Ideologie wiedergegeben haben und mit ihr den Begriff vom Soldaten und der Armee als Garant von Effizienz über ein ziviles, korrumpierbares Universum, hat es von der Wiedermilitarisierung der Präsidentenfigur mit der Machtübernahme von Hugo Chávez – der letzte Militärherrscher regierte bis zum Jahr 1958 – einen neuen Impuls für die Absicht gegeben, die Jugend in Klassenbewusstsein, in eigenen und exklusiven Werten der Streitkräfte zu bilden.

Die vormilitärische Ausbildung

Im Jahre 1981 entschied man sich, durch eine gemeinsame Erklärung des Verteidigungs- und des Bildungsministeriums, als Pflichtstoff in der Sekundarausbildung in den beiden letzten Jahren vor dem Eintritt in die Universität einen Kurs in vormilitärischer Ausbildung einzurichten. Die ersten Regionen, in denen vormilitärische Kurse gegeben wurden, waren die grenznahen Zonen (Táchira, Zulia, Apure, Amazonas y Bolívar), aber im Jahr darauf hatten sich schon andere Staaten angeschlossen, wie Lara, wo der Autor dieser Zeilen damals lebte.

In dieser Zeit wurden die vormilitärischen Lektionen ausschließlich in öffentlichen Gymnasien gegeben, die vom Staat abhingen. Und nicht in allen, obwohl leider an dem Gymnasium, wo ich damals war. Es gab einen theoretischen Teil, der im Grunde ein Durchgang der Geschichte Venezuelas war mit Schwerpunkt auf dem Unabhängigkeitskrieg und den Siegen Simón Bolívars. Auch wenn das historisch falsch ist, wurde damals – und bis heute – versichert, dass die Streitkräfte Venezuelas direkte Erben des Unabhängigkeitsheers seien, das die spanische Krone aus dem Land trieb. Der Rest der Lektionen waren endlose Sitzungen der sogenannten „Formalausbildlung“: Auf Befehle nach den militärischen Weisen zu reagieren und zu marschieren wie in den Paraden. Das Schlussexamen des vierten Jahres bestand darin, in möglichst kurzer Zeit ein Sturmgewehr zu laden und zu entladen. Das des fünften Jahres, in einer richtigen Militärkaserne einen Trainingslauf über Hindernisse zu machen. Die vormilitärische Ausbildung hatte dieselbe Bedeutung wie etwa Physik, Chemie, Mathematik oder Literatur. Ganz zu schweigen von Fächern, die schlichtweg nicht erteilt wurden, wie Philosophie oder irgendeine handwerkliche Kunst wie Zimmerei oder Elektrizitätslehre, die wirklich für das Leben in der Gesellschaft nützlich wären.

Im Jahre 1999, als ein Mitglied der Streitkräfte siegreich Präsident Venezuelas wird, verstärken sich die militarisierenden Tendenzen, die in der venezolanischen Kultur präsent sind. Von diesem Jahr an beginnen aktive Uniformierte, in verschiedenen Verantwortungsbereichen der öffentlichen Verwaltung Funktionen auszuführen, auch als Bürgermeister, Provinzgouverneure und Minister. Selbst die Organisationsform der sozialen Basis, die den ersten Befehlshaber begleitet, realisiert sich im Grunde als Kriegsstrategie, es überwiegt die vertikale Beziehung der Solidarität und die Freund-Feind-Logik. Auf dem Feld der Bildung wird die Verpflichtung der vormilitärischen Ausbildung ebenso für die öffentlichen wie für die privaten Institutionen dekretiert.

Eines der ersten Bücher, die als Hilfestellung für die Klassen der vormilitärischen Ausbildung herausgegeben wurden, bestätigte den Antagonismus der militärischen Rationalität und der militärischen Werte bei jedem Entwicklungsprojekt. Der Text „Instrucción premilitar“ von Marjorie Vásquez (Editorial Biosfera, 1999, S. 58) versicherte: „Seit den siebziger Jahren (…) begann als Produkt unseres Ölreichtums eine wahllose und unkontrollierte Lawine von Immigranten aus Kolumbien, Ecuador, Peru, Santo Domingo, Trinidad, Cuba und anderen Teilen Zentral- und Südamerikas, die in ihrer Mehrzahl ohne formale Bildung, ohne bestimmten Beruf, mit Traumata, mit Krankheiten kamen, um das leichte Geld zu machen, das ihnen Venezuela bot.“ Sofort empfiehlt die Professorin, die Immigration aus Europa anzuregen. Die Lektionen in Fremdenfeindlichkeit, unerhört für einen Schultext, endeten damit nicht. Über die Gründe der Immigration von Frauen aus Lateinamerika hatte die Autorin auf S. 50 die Kühnheit sich zu fragen: „Wie viele von ihnen bieten ihr Fleisch dem Meistbietenden, um Kinder in die Welt zu setzen, die ihnen erlauben, ihren Wohnsitz im Lande zu legalisieren?“ Das Buch verursachte eine kurze Polemik über die Inhalte, die in den „vormilitärischen“ Klassen vermittelt wurden. Doch die Stimmen, die forderten, dieses Material solle optativ, nicht verpflichtend sein im Studienpensum, waren nicht stark genug. Das Werk von Marjorie Vásquez wurde angepasst und die vormilitärischen Klassen werden bis zum heutigen Tage abgehalten.

Die Pädagogik der Kaserne

Die Universidad Nacional Experimental Politécnica de la Fuerza Armada (UNEFA) ist eine universitäre Einrichtung der Streitkräfte Venezuelas, die 1974 vom Präsidenten Rafael Caldera gegründet wurde. Zunächst war ihr Ziel, die Professionalisierung der Mitglieder der Streitkräfte voranzutreiben, mit Kursen in verschiedenen Zweigen des Ingenieurwesens und mit Sitzen in nicht mehr als drei Staaten des Landes. Dieser Schwerpunkt ändert sich im Jahr 1999, als Präsident Chávez der Universität den Status einer „Nationalen Experimentier- Universität“ verleiht, was erlaubt, dass vom Jahr 2004 an ein sowohl territorialer wie akademischer Wachstumsprozess einsetzt. Die UNEFA umfasst Berufsbilder wie Hotelwesen, Sozialökonomie, Verwaltung, die Allgemeinbildung und Erste Hilfe, was ihr erlaubt, ihre Türen für Personen aus der „zivilen“ Welt zu öffnen. Diese Institution wuchs in solchem Maße, dass die Regierung Venezuelas versichert, sie sei die erste Universität mit den meisten Studenten des Landes, etwa 240.000.

Es wäre irrig zu denken, dass die Universität sich mit dieser Öffnung verändert und ihre militärische Eigenschaft verloren hätte. Das Phänomen war das gegenteilige: Mit der UNEFA hat sich das Universum der höheren Bildung in Venezuela militarisiert. Das Institut hat eine Kasernendisziplin, und als Pflichtfach – was bis jetzt in keiner anderen Universität des Landes existiert – werden die Studenten in militärischen Fertigkeiten dressiert. Die Möglichkeit, zum universitären Bildungssystem zu gehören, muss mit der Annahme der Indoktrination bezahlt werden.

Die UNEFA zeigt sich stolz, dass sie aktiv zur Bildung der Bolivarischen Nationalmiliz beiträgt, einer zivilen Komponente der Streitkräfte, die während der Regierung Bolívars geschaffen wurde und die den offiziellen Zahlen gemäß im ganzen Land 13.000 männliche und weibliche Mitglieder zählt. Die Universitätsleitung versichert, dass die Studenten sich „freiwillig“ der Miliz anschließen, aber ist es möglich, einen Graduiertentitel zu bekommen, wenn der Student seine Teilnahme ablehnt?
Die Bolivarische Nationalmiliz hat als angebliche Legitimationsquelle den Artikel 326 der Verfassung, der das sogenannte „Prinzip der Mitverantwortlichkeit der Bürgerschaft bei der umfassenden Verteidigung der Nation“ regelt. Bis zu diesem Augenblick hat sich diese Interpretation in der Schaffung dreier Typen zivil-militärischer Unternehmungen konkretisiert: Die Territorialmiliz, die Militärreserve und die „Einheiten der Kämpfer“. Die Unterscheidung zwischen der Miliz und den „Einheiten der Kämpfer“ besteht darin, dass die letzteren, gemäß der Teilreform des Organgesetzes der nationalen Bolivarischen Streitkräfte –2009 verabschiedet – in öffentlichen und privaten Firmen des Landes organisiert sein müssen, „um die Integrität und Handlungsfähigkeit der Institutionen zu sichern, zu denen sie gehören“. Doch haben die „Einheiten der Kämpfer“ immer noch Beziehung zu dem Bildungsmodell, das von der sogenannten „bolivarischen Revolution“ vorangetrieben worden ist: Sprecher von Institutionen wie der Universität Rómulo Gallegos (Unerg), der Universität Simón Rodríguez (SR) und der Nationalen Offenen Universität (UNA), früher Institutionen höherer Bildung, aber heute offen von der Regierung kontrolliert, haben ihre Verpflichtung versichert, sie unter ihren Angestellten und Arbeitern zu organisieren. Eine Verpflichtung, ähnlich der Stärkung der Miliz, lässt sich in der Universidad Bolivariana de Venezuela (UBV) finden. Bis jetzt existiert noch keine klare organische Verbindung der Bildungsinstitutionen mit den Milizen, und die Initiativen sind isolierte Anstrengungen und mit wenig Koordination untereinander. Doch die Anzeichen deuten darauf hin, dass man in Richtung einer besseren Artikulation voranschreiten und eine Institutionalisierung für die „integrale Verteidigung“ der Nation schaffen will, die als eine ihrer Komponenten das Bildungssystem haben soll.

Eine andere militaristische Initiative war vonseiten des Staates die Schaffung der sogenannten „Kommunikativen Guerrillakommandos“, paradoxerweise die Initiative einer Frau, der Regierungschefin des Hauptstadtdistriktes Jacqueline Faría, im April 2010. Das Projekt war, Einheiten von 25 studierenden Jugendlichen mittlerer Bildung zu schaffen, um dem entgegenzutreten, was die Regierung des Präsidenten Chávez die „kommunikative Hegemonie“ der privaten Medien nennt. Die Jugendlichen wurden vor den vaterländischen Symbolen vereidigt und mit Militärkleidung in der Ästhetik der lateinamerikanischen Guerrilla der 60-er Jahre versehen und mit verschiedenen Werkzeugen, um an den Straßen Wandmalereien anzubringen. Doch diese Initiative hatte keinen Erfolg. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen stellten die Apologie der bewaffneten Gewalt in Frage, weshalb ihre sichtbarsten Kerne nur bis zu den Wahlen zur Nationalversammlung am 26. September 2010 aufrechterhalten wurden. Das Verschwinden des Projektes legt nahe, dass die Kommunikationsguerrillas eine Funktion hatten, die an der Wahlpropaganda orientiert war, deshalb werden sie möglicherweise für die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2012 eine zweite Auflage erleben.

Es gibt viel Material zum Nachdenken, dass der bolivarianische Sozialismus, der von Caracas aus verbreitet wird, nicht einer ist, der die Welt problematisiert und die Würde der menschlichen Wesen erhebt, sondern einer, der die Prophezeiung erfüllt, die vor Jahrzehnten vom Schriftsteller Albert Camus ausgesprochen wurde. „Das große Ereignis des 20. Jahrhunderts war vonseiten der revolutionären Bewegung die Aufgabe der Freiheitswerte; die fortschreitende Regression des freiheitlichen Sozialismus vor dem Cäsaren- und militärischen Sozialismus. Von diesem Augenblick an ist eine Hoffnung weniger in der Welt, eine Einsamkeit hat für jeden freien Menschen begonnen.“

http://www.wri-irg.org/de/node/14531

Tags: 

Related content